Ganz aktuell: Goethes geflügeltes Begriffspaar „Dichtung und Wahrheit“

von Beate Seelinger

Natürlich – jedem fällt bei der Gegenüberstellung von „Dichtung und Wahrheit“ der weise Goethe ein, der in seinem Werk gleichen Titels schon in den ersten Zeilen Zeugnis dafür ablegt, wie selbst in das Schreiben über das eigene Leben, das ja ein rein faktisches sein könnte, Dichtung einfließt, die reinen, wahren Fakten durch Erfundenes oder Interpretiertes bereichert oder gar ersetzt werden. So berichtet er, wie er „…am 28. August 1749, mittags mit dem Glockenschlage zwölf,  in Frankfurt am Main auf die Welt (kam). Die Konstellation war glücklich; die Sonne stand im Zeichen der Jungfrau, und kulminierte für den Tag; Jupiter und Venus blickten sie freundlich an, Merkur nicht widerwärtig; Saturn und Mars verhielten sich gleichgültig: nur der Mond, der soeben voll ward, übte die Kraft seines Gegenscheins um so mehr, als zugleich seine Planetenstunde eingetreten war. Er widersetzte sich daher meiner Geburt, die nicht eher erfolgen konnte, als bis diese Stunde vorübergegangen…“ und beschreibt damit ein Geschehnis, das er so in keiner Weise selbst bewusst erlebt haben konnte und bei dessen Darlegung er auf die subjektive Erzählung seiner Mutter, bzw. anderer Personen, die an diesem Ereignis in Präsenz Anteil hatten, angewiesen war. Er schmückt es aus, gestaltet es aus literarischen Gründen detailreich. Diese Problematik macht er auch gleich zum Thema, bzw. erklärt – locker und stark verkürzt gesagt –, dass gerade aus dem Zusammenspiel von Dichtung und Wahrheit das autobiografische Schreiben zu dem wird, was es ist, und es gerade daraus seinen Reiz erfährt.

Dichtung und Wahrheit, Fakten und Fiktives. Wenn wir schreiben – professionell oder hobbymäßig – in welchem Verhältnis verarbeiten wir Fakten und Fiktives? Kein Text wird wohl frei sein von Fakten und kein Text wird frei sein von Fiktivem. Wir brauchen Fakten, um das Gerüst eines Textes zu konstruieren. Es mag sich hierbei um Tatsachen handeln, die wir schlicht als „Realität“ kennen, wie man sie tagtäglich erfährt oder wie man sie uns als „Realität“ erklärte. Der Schreiberling braucht Fakten, sonst funktioniert die Story nicht. Die Spannweite, was das Verhältnis von Fakten und Fiktion angeht, reicht von wissenschaftlicher Abhandlung, Bericht und Reportage bis hin zu Fabel, Science Fiction und Märchen. Und just in dieser Spannweite bestimmt sich das Verhältnis von Dichtung und Wahrheit in unseren Texten. Während sich die wissenschaftliche Abhandlung im Großen und Ganzen rein an Fakten orientiert, wuchert im Märchen die Fiktion. Selbst, wenn wir uns auch noch so sehr um Wahrheit bemühen, es wird uns wohl kaum gelingen, nicht unseren höchst persönlichen Anteil an `Dichtung` in einen Text hineinzulegen. Unsere Sicht auf die Dinge ist eine höchst subjektive und diese Subjektivität verschleiert letztendlich jede Wahrheit. Das ist in der Literatur kein Schaden – im Gegenteil –, genau das macht sie aus. Kein Roman ohne Fiktion, kein Märchen ohne Dichtung, natürlich nicht. Von daher kein Problem – meint auch schon Goethe.

Doch das Verhältnis von Dichtung und Wahrheit kann problematisch werden. Und selbst das hochbewusste Universalgenie hätte sich wohl kaum vorgestellt, in welch großem Maße das Zusammenspiel von Dichtung und Wahrheit einmal zum Problem, selbst in der Weltpolitik, werden konnte. Wir leben im Zeitalter von Fake-News, von erfundenen und verunstalteten Fakten, die wie wild um die Welt gehen und sich wie ein unbeherrschbares Virus mittels elektronischer Medien auf alle Breitengrade des Globusses niederlassen. Da wird das, was in der Literatur als Kunstmoment gilt, zur nicht zu unterschätzenden Gefahr. In Nachrichten sollten FAKTEN, sollte WAHRHEIT dominieren. Auch bisher ließ sich kaum eine subjektive Färbung je nach politischer Couleur, wirtschaftlichen Interessen oder anderen Ursprungs vermeiden. Jedoch in der Vergangenheit galt es als ungeschriebenes Gesetz, dass man sich als Berichterstatter an die Fakten zu halten hatte. Das ist nun vorbei. Gelegentlich hat man heute als Konsument von Information, wie sich das Phänomen nennt, den Eindruck, bereits in einer undurchschaubaren Blase von Falschinformationen zu leben, in der die Selektion von Wahrheit so gut wie unmöglich erscheint. Das Zusammenspiel von Dichtung und Wahrheit ist in der Berichterstattung nun einmal nicht gefragt und man sollte sich als Rezipient dieser nicht fragen müssen „Dichtung oder Wahrheit?“ Was in der Literatur als Kunstmoment unseren Geist fördert, bedroht ihn in der Berichterstattung der realen Welt. Fake-News verunsichern, bedrohen gesellschaftlichen Frieden, verführen, stacheln auf, belügen. Wir schreien laut nach Wahrheit, wenn es darum geht, über die Welt und ihre Geschehnisse informiert zu werden. Jedoch haben wir die Wahrheit in unseren Informationen noch unter Kontrolle?

„Dichtung und Wahrheit“, „Dichtung oder Wahrheit“ – wie oft kommt uns heutzutage das durch den Freiherren zum geflügelten Wort erhobene Begriffspaar in den Sinn? Wer hätte gedacht, dass es einmal zu solch allgegenwärtiger Aktualität und Brisanz gelangt? Was einmal als Kriterium in der literarischen Kunst galt, beherrscht nun unseren Alltag. Dichtung und Wahrheit scheinen untrennbar miteinander verwoben. In der literarischen Kunst und ganz profan, jeden Tag. Dichtung alleine gesehen ist etwas Schönes, Wahrheit als solche ebenfalls. Im falschen Verhältnis am falschen Platz können beide zusammen tatsächlich zur Gefahr werden.