von Peter Reinhold *
Mein Hobby? Ich war schon immer neugierig auf andere Menschen. Wie die leben, wie die ticken, was die denken. Wie DIE es schaffen, mit dem ganzen Kram, den das Leben so mit sich bringt, zurecht zu kommen.
Da passte es gut, dass ich während des Studiums – um mir neben der vom Elternhaus finanzierten Grundsicherung ein paar zusätzliche Annehmlichkeiten leisten zu können – auf das Taxifahren als zusätzliche Erwerbsquelle verfiel. Die Knete war natürlich das Wichtigste dabei, aber von manchem Fahrgast profitierte ich auch sonst nicht wenig: zum Beispiel mit interessanten Hinweisen zu den genannten Fragen. Dabei reifte in mir die Erkenntnis, dass es einen Standard, sich im Leben einzurichten, wie ich ihn vielleicht noch zu Anfang meines „Forschungsunternehmens“ erwartet hatte, nicht gab. Jeder Mensch tickte offensichtlich ein bisschen anders. Und Einige ganz besonders anders.
Mit diesem vorläufigen Ergebnis tauchte ich dann ins Berufsleben ein. Meine Neugier auf andere Menschen war geblieben, aber die Möglichkeit, mich wie beim Taxifahren immer wieder mit anderen Existenzweisen auseinandersetzen zu können, war jetzt doch sehr eingeschränkt. An meinem Arbeitsplatz als „Sachbearbeiter Datenverarbeitung“ passierte da nicht viel. Die Mit- und Beifahrer blieben oft über Jahre dieselben. Mit Ende meines Berufslebens sah ich daher die Chance gekommen, mein als Taxifahrer betriebenes Hobby wieder aufzunehmen. Und so landete ich bei der Telefonseelsorge.
Die Telefonseelsorge wurde in den 1950-er Jahren als erste Hilfe und Anlaufstelle für Menschen gegründet, die sich das Leben nehmen wollten. Heutzutage ist die Telefonseelsorge viel breiter aufgestellt, immer öfter auch konfessionsübergreifend. Und ist inzwischen oft erster Ansprechpartner in allen möglichen Lebenskrisen. Seit ein paar Jahren ist die Telefonseelsorge auch per Mail und Chat erreichbar, übrigens wie am Telefon immer anonym und streng vertraulich.
Die Themen unserer Anrufer*innen? Dass jemand sich unmittelbar umbringen will, kommt eher selten vor, Suizidgedanken schon öfter. Oft geht es auch um Probleme mit den Partner*innen, in der Familie, am Arbeitsplatz oder überhaupt mit anderen Menschen. Vielfach rufen auch Leute mit psychischen Krankheiten an – zum Beispiel mit Angststörungen, Zwängen, Süchten und oft auch mit Depressionen.
Wir hören zu, fragen nach, geben Feedback, und manchmal schweigen wir auch schon mal für eine Weile, gemeinsam mit den Anrufer*innen. Nicht selten ist von vornherein klar, was auf der anderen Seite von uns erwartet wird. Manchmal braucht es aber auch seine Zeit, bis wir uns gemeinsam mit den Anrufenden mehr Klarheit über ihr Anliegen verschafft haben. Eine der häufigsten Antworten, wenn wir nach dem Grund des Anrufs fragen, ist übrigens, dass unser Gegenüber „einfach mal jemanden zum Reden braucht“. Für manche Menschen, die an sich selbst und ihrer Umgebung schier verzweifeln, ist es schon ein großer Trost, wenn ihnen mal jemand wirklich zuhört. Und ihr Leid mitträgt. Selbst wenn das nur für die Dauer eines Gesprächs ist.
Jemand anderen zu verstehen, das klingt einfach und ist oft schwer. Manchmal ist es auch fast unmöglich, jedenfalls für einen von uns allein. Zum Glück sind wir viele bei der Telefonseelsorge. Wenn ich mal den Menschen am anderen Ende der Leitung nicht verstehe, beruhigt mich das immer: dass andere von uns mit seinem Anliegen vielleicht besser zurechtkommen. Dabei braucht es nicht nur Verständnis für die Worte, verstehen müssen wir auch und besonders die Gefühle – die Gefühle der Anrufer*innen und nicht zuletzt auch die Gefühle, die uns selbst im Gespräch bewegen. Dabei ist das Unverständliche, zuweilen Rätselhafte, manchmal auch schwer Auszuhaltende im Gespräch mit unseren „Kund*innen“ für mich die interessanteste Herausforderung bei dieser Tätigkeit.
Wir gehen natürlich nicht unvorbereitet in unseren Dienst. Am Anfang der Tätigkeit bei der Telefonseelsorge hat jede(r) von uns eine einjährige Ausbildung durchlaufen. Begleitend gibt es die Supervisionsgruppe, in der wir regelmäßig zur Sprache bringen können, was uns besondere Schwierigkeiten bereitet hat. Dies kommt uns nicht nur bei unserer Arbeit, sondern oft auch im „übrigen Leben“ zu Gute. Meine Tätigkeit bei der Telefonseelsorge ist nicht immer einfach, aber sie erfüllt mich und gibt mir neue Perspektiven – auf das Leben und auf mich selbst. Egal wie man das nennt, ob Hobby oder Arbeit oder sonstwie: Etwas Interessanteres kann ich mir, jedenfalls gegenwärtig, kaum vorstellen.
(*) Pseudonym, Name ist der Redaktion bekannt