von Barbara Heinze
Der Anfang
Es fing damit an, dass meine Nachbarin Agathe in Ulm von Schwester und Schwager besucht wurde. Schwager Kyrill ist in St. Petersburg geboren, lebt aber seit vielen Jahren mit seiner Familie in Karlsruhe. Mit nach Ulm angereist kam Kyrills Cousine Lubow, die aus Leningrad kommend gerade zu Besuch in Karlsruhe war. So habe ich Lubow kennengelernt. Wir haben uns gleich sehr gut verstanden, weil sie hervorragend Englisch sprach und wir ein ähnliches Gebiet wissenschaftlich bearbeiteten: Radioaktive Strahlung und seine biologische Wirkung und Gefahr – sie als Physikerin, ich als Biologin. Nach unserem stundenlangen Gespräch lud sie mich zu sich nach St. Petersburg ein. Das war vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion, und St. Petersburg hieß noch Leningrad. Ich könnte dort bei ihnen privat unterkommen und sie wolle mir Leningrad zeigen. Das ließ ich mir nicht zweimal sagen.
Die Fahrt
Wie dorthin kommen, wenn man nicht fliegen will? Heutzutage braucht man mit der Bahn 42 bis 45 Stunden und muss 6 bis 7 Mal umsteigen. Wie oft ich damals umsteigen musste (aber keine 6 x) und wie lange ich damals gebraucht habe? Sicherlich mindestens genauso lange, aber ich habe es nicht mehr genau in Erinnerung. Aber ich weiß noch, dass es nur eine Verbindung gab, nämlich mit Start von Hannover durch die ehemalige DDR und Polen nach Leningrad. Es war klar, dass man bei einer so langen Bahnreise Schlafwagen brauchte. Damals lieferte nicht die deutsche oder die österreichische Bahn die Schlafwagen, sondern die Sowjetunion.
Mit diesen sowjetischen Schlafwagen machte ich wider Erwarten gute Erfahrungen: blütenweiße Bettwäsche, weiche dicke Kissen und Zudecke (ein enormer Comfort im Gegensatz zu den bundesrepublikanischen Schlafwagen 2. Klasse). Allerdings – morgens gab es zwar Kaffee, aber kein Brot, Brötchen oder Teilchen. Das war insofern nicht so schlimm, weil der Zug auf der langen Strecke öfters anhielt und dann meist Marketenderinnen an den Gleisen Lebensmittel anboten: Piroggen und alle möglichen anderen Leckereien direkt am Zugfenster der Zugreisenden. Da alle begeistert zugriffen, wagte ich es auch, und es schmeckte vorzüglich. Die Verständigung im Zug war spärlich, denn damals waren wenig West-Touristen mit der Bahn unterwegs, sondern nur Einheimische, und die sprachen in der Regel weder Deutsch noch Englisch. Aber die Kommunikation „mit Händen und Füßen“ funktionierte vorzüglich, und immer war ein Lächeln dabei. Nachträglich – aber ca 15 Jahre später – habe ich erfahren, dass besonders in den Zügen von und nach Warschau Reisende nicht nur ausgeraubt, sondern auch körperlich bedroht wurden. Das war dann so gefährlich, dass meine polnischen Freunde bei meinem Besuch in Polen im Jahre 2001 darauf bestanden, mich mit ihrem Auto in Warschau abzuholen, um mich ins 80 km entfernte Lublin zu bringen.
Die Ankunft
Insgesamt habe ich also zunächst die Zugreise genossen. Dann wurde es aber „spannend“. Die Stationsnamen waren natürlich nur mit kyrillischen Buchstaben angezeigt, die ich mühsam entziffern konnte – das war das Einzige, was von meinem dreiwöchigen Russisch-Sprachkurs in Wien vor 20 Jahren hängengeblieben war. Die Bahnhofsstationen zeigten nicht immer Stationsnamen, aber endlich erkannte ich die kyrillischen Buchstaben für Leningrad. Das Wort Leningrad trug aber zusätzliche Ortsbezeichnungen, wo also nun aussteigen? Das fragte ich mich, und keiner konnte es mir beantworten. Welches war der Hauptbahnhof? „Auf gut Glück“ stieg ich dann dort aus, wo die meisten Leute ausstiegen.
Allerdings sah dieser Bahnhof sehr „armselig“ aus, kein richtiges Hauptgebäude, nur wenige Gleise. Immerhin, ich war also schon in Leningrad, und ich hatte die Telefonnummer von meiner neuen Freundin Lubow.
In Leningrad
Nun fand ich allerdings keine öffentliche Telefonzelle, und Handys gab es noch nicht. Aber man war hilfsbereit: ein russischer Bahnbeamter erlaubte mir, sein „Diensttelefon“ zu benutzen. Und siehe da, es funktionierte, und am anderen Ende der Leitung hörte ich eine weibliche Stimme. Aber sie sprach Russisch, das konnte ich identifizieren, aber ich verstand einfach zu wenig. Nun versuchte ich es mit Deutsch, weiterhin hörte ich nur russische Laute am anderen Ende der Leitung. Dann versuchte ich es mit Englisch, auch das war erfolglos. Mein letzter verzweifelter Versuch war die französische Sprache, und siehe da, oh Wunder, Begeisterung am anderen Ende der Leitung. Jetzt konnte man endlich kommunizieren, ich wurde verstanden. Man rief dann die Tochter Lubow ans Telefon, die als russische Wissenschaftlerin Englisch gelernt hatte. Lubow konnte mir auch erklären, dass ich tatsächlich am richtigen Leningrader Bahnhof ausgestiegen war.
Bei meinem Anruf hatte ich also die hochbetagten Eltern von Lubow an der Strippe. Diese hatten in den 1920er Jahren im damaligen St. Petersburg noch das Schul-Französisch gelernt und wohl auch genutzt. Es war eine einmalige Chance, diese Eltern noch kennen zu lernen, sie waren bereits nahe an die 90 Jahre alt und sind wenige Monate nach meinem Besuch verstorben. Die ganze Familie hat sich köstlich darüber amüsiert, wie ich so „unbedarft“ und naiv anreisen konnte. Das hat gleich ihre „Beschützerinstinkte“ geweckt.
Die Tage in der Wohnung dieser russischen Familie, zur russischen Intelligentia gehörend, die vom Kommunismus besonders malträtiert worden war – der Vater war Ingenieur und Professor an der Universität, die Mutter Klaviervirtuosin – erwiesen sich als ein besonderes Erlebnis für mich: so menschlich berührend und interessant. Lubow führte mich persönlich ausgiebig durch das weltberühmte Museum der Eremitage, damals gab es noch relativ wenige West-Touristen. Bei einem späteren Besuch in der Eremitage im inzwischen umbenannten St. Petersburg konnte ich feststellen, was für ein Privileg das gewesen war! Heutzutage ist die Eremitage praktisch in jeder Jahreszeit überfüllt, und der Besuchstermin muss genau überlegt sein. Man kann nicht stundenlang vor einem Objekt stehen bleiben, das besonders faszinierend ist.
Die Lebensumstände, die ich unmittelbar erlebte, die Gastfreundschaft, die Lebensfreude, die praktische Bewältigung der täglichen Probleme, zu denen man einen extra Bericht schreiben könnte. Das ist inzwischen über 30 Jahre her, aber mir unvergesslich geblieben. Ich bedaure, dass ich keine Kontakte mehr nach St. Petersburg habe, Kyrill, das Bindeglied, ist vor einiger Zeit verstorben. Ich wünsche mir, dass es Lubow mit ihrer Familie – jetzt mit Putin – gut geht. Es würde mich sehr interessieren und sie würde mit mir auch offen darüber sprechen. Damals hatten wir interessante und ehrliche Gespräche über die politischen und finanziellen Verhältnisse.
Mein Weg zurück nach Deutschland, der Flug von Warschau nach Berlin, war dann ganz „gewöhnlich“. Geblieben ist eine wunderbare Erinnerung: auch Putin kann mir deshalb nicht mehr das Bild von russischen Mitmenschen verderben.
Barbara Heinze im Mai 2020